Die dramaturgische Kunst gelungener Überraschungen

 

In diesem Beitrag geht es um das „Gegengewicht“ zu den „erfüllten Prophezeiungen“, von denen ich im vorigen Beitrag erzählt habe. Es handelt sich um die Überraschungen, die Wendungen, die uns dramaturgisch faszinieren, wenn sie sich als glaubwürdige Enthüllungen von Informationen erweisen.

Falsche Spuren konstruieren

Besonders geschickten Autoren gelingt das Überraschungsmoment, indem sie ihr Publikum auf falsche Fährten locken. Wir kennen diese Vorgehensweise aus einigen erfolgreichen Krimiserien. In diesem Zusammenhang möchte ich speziell Cold Case, Close To Home und den Langzeitläufer Law And Order nennen. Das dramaturgische Prinzip konstruierter Überraschungen funktioniert bei diesen Erfolgsserien wegen der permanenten Streuung falscher Informationen. Die Ermittler folgen einer Spur nach der anderen, um zu entdecken, dass sie sich auf einem falschen Pfad befinden. Sie „kehren um“ und in der Auflösung entpuppt sich ein Täter, mit dem anfangs niemand wirklich gerechnet hat. Dabei müssen die Dramaturgen immer glaubwürdig bleiben und auch glaubwürdige Alibis konstruieren, die sich nachträglich als falsche Spur herausstellen. Nichts ärgert uns mehr, als ein Täter, der aus dem Hut gezaubert wurde und zuvor nicht im Visier der Ermittler aufgetaucht ist. Unser Drang, ein Rätsel zu lösen und herauszufinden, wer von den möglichen Verdächtigen nun tatsächlich als Täter in Frage kommt, darf durch unglaubwürdige Enthüllungen von Informationen nicht gestört werden. Freilich kann ein Publikum auch auf diese Dramaturgie konditioniert werden, weshalb die Autoren solcher Formate ständig vor neuen Herausforderungen stehen. (Oder die Serie wird irgendwann einmal eingestellt, weil sich die Muster abgenützt haben.)

Das platzierte Streuen falscher Informationen, um diese als gelungene Überraschungen in der Auflösung zu ernten, gehört wohl ohne Zweifel zu den anspruchsvollsten Aufgaben dramaturgischer Kunst. Aber in den meisten Genres, speziell im Bereich des Kinofilms, scheint das säen falscher Informationen bei einem konditionierten Publikum heute fast schon aussichtslos.

The Sixth Sense: Falsche Spur als Kinohit

Wenn wir darüber nachdenken, welcher Film uns außerhalb des Genres Krimi durch eine überraschende Auflösung verblüfft hat, so müssen wir wohl zugeben, dass es sich hierbei eindeutig um The Sixth Sense handelt. Ich gebe zu, auch ich habe mich trotz meiner Erfahrung und meines dramaturgischen Wissens, so wie viele Millionen anderer Menschen auch, auf eine falsche Spur führen lassen. Deshalb zählt der Film von M. Night Shyamalan heute zu den weltweit erfolgreichsten Filmen aller Zeiten. Kein Wunder, dass versucht wurde, eine ähnlich überraschende Auflösung in vielen nachfolgenden Filmen zu kopieren. Die Schwierigkeiten solcher Versuche dürften auf der Hand liegen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob lediglich Überraschungsmomente in die Dramaturgie eingebaut werden sollen, oder ob eine überraschende Auflösung konstruiert werden soll, die alle vorhergehenden Informationen innerhalb einer Story ad absurdum führt.

Und das ist auch überhaupt nicht nötig. Überraschungen müssen nicht gleich die ganze Story tragen. Sie erfüllen bereits ihren Zweck, wenn sie unser Staunen über unvorhersehbare Wendungen erzeugen.

Wir lassen uns gerne auf falsche Spuren locken, um später in den Genuss von Überraschungen zu kommen. Im Film The Sixth Sense erlangen der Protagonist und das Publikum am Ende gemeinsam dieselbe traurige Erkenntnis. Obwohl wir zu Beginn des Filmes den Schuss auf die Hauptfigur gesehen haben, schafften es die Dramaturgen, damit eine falsche Information zu säen und uns während der ganzen Story auf einer falschen Spur zu halten, um uns mit der Enthüllung der richtigen Informationen am Ende zu verblüffen.

Ich wiederhole mich an dieser Stelle deshalb gerne nochmals: Das gezielte ernten der zuvor falsch gesäten Informationen gehört zur höchsten dramaturgischen Kunst.

 

Über die dramaturgische Kraft erfüllter Prophezeiungen

 

„Dramaturgiegurus“ erzählen uns oft, wie wichtig es ist, Überraschungsmomente in Storys einzubauen. Überraschungseffekte sind zwar sehr wichtig, sie benötigen aber auch ein „Gegengewicht“, um die Dramaturgie einer Story in Balance zu halten. Deshalb sind „erfüllte Prophezeiungen“ ein probates Mittel, um ihre komische oder tragische Funktionalität zu entfalten.

Sehr beliebt: Komik durch harte Schnitte

Das kennen wir alle. Wir erleben eine Vermutung oder eine Vorahnung eines Protagonisten und im darauf folgenden Schnitt sehen wir genau dieses Ereignis. Damit wurden schon oft sehr schnelle Lacher in erfolgreichen Komödien erzielt. Auch wenn wir es nicht gerne zugeben, aber es ist vor allem die in uns wohnende Schadenfreude, die uns zum Lachen über die „Schmerzen“ anderer verführt.

In Verrückt nach Mary (Orig.: There´s Something About Mary) erleben wir Ben Stiller in einer misslichen Lage, nachdem sich dessen bestes Stück im Reißverschluss verklemmt hat. Ein Polizist will dem Protagonisten gewaltsam helfen und versichert dem Armen, dass er das Schlimmste bereits überstanden hat. Der Cop beginnt bis drei zu zählen und wir ahnen bereits die schrecklichen Folgen dieses Rettungsversuchs. Noch bevor wir die „Drei“ hören, folgt der harte Schnitt auf die erwarteten Konsequenzen. Die Hauptfigur liegt auf einer Trage und die Sanitäter müssen den Verletzten durch die Menge der vielen Schaulustigen zum Rettungswagen tragen.

Im Film Vorbilder?! (Orig.: Role Models) hat Paul Rudd in einer Szene sehr schlechte Stimmung, weil er sich gerade vorstellt, wie er an einem Campingausflug teilnehmen soll und bei solchen Ausflügen immer einen Typen erwartet, der nicht Gitarre spielen kann. Im nächsten Schnitt sitzt er tatsächlich im Wald einem Typen gegenüber, der schrecklich an seiner Gitarre herumzupft.

Die Beispiele ließen sich noch zahlreich fortsetzen, aber die Funktionalität bleibt immer dieselbe. Der Schnitt auf die Erfüllung eines Ereignisses, das im Bild zuvor von einer Figur erwartet wird, erzeugt Komik. Das zeitliche Element spielt hierbei, neben unserer innewohnenden Schadenfreude, die zentrale Rolle. Das funktioniert bei allen komischen Stoffen. Für alle anderen Genres gelten zeitlich betrachtet etwas andere Regeln.

„Wie ich es hasse, immer Recht zu behalten!“ (Jeff Goldblum in Jurassic Park, als er vor einem T-Rex flüchten muss)

Der komische Effekt kann auch in anderen Genres erzielt werden, wenn die Zeitspanne zwischen Erwartung und Erfüllung eines Ereignisses gedehnt wird. In Jurassic Park beweisen alle drei Wissenschaftler ihre ablehnende Haltung gegenüber einem Freizeitpark mit gezüchteten Urzeitmonstern. Vor allem Dr. Malcolm, gespielt von Jeff Goldblum, ist eine zutiefst pessimistisch motivierte Figur. Sie ist diejenige, die bereits zu Beginn des Filmes die schrecklichen Folgen prophezeit. Und tatsächlich gelingt es nur kurze Zeit später einem T-Rex auszubrechen und Jagd auf die Besuchergruppe zu machen. Die Aussage in der Überschrift verleiht der Dramaturgie in dieser Szene zwar eine gewisse Situationskomik, sie hat jedoch nichts mit Bestätigung einer stets negativ denkenden Figur zu tun, sondern lediglich mit deren Enttäuschung darüber, dass sich der angeborene Pessimismus schon wieder bestätigt hat. Deshalb bleibt gerade diese Figur durchwegs sympathisch, manchmal auch witzig und wurde in der Fortsetzung sogar als Hauptfigur eingesetzt.

In anderen Filmgenres und in besonders tragischen Filmen überwiegt sehr oft das frühe Enthüllen von Prophezeiungen. Spannungstreiber ist dann vor allem die Neugier. Wir wollen wissen, wie sich die Dinge dahingehend entwickeln, die uns gleich zu Beginn dargelegt werden. Im Drama We Need to Talk About Kevin wollen wir beispielsweise erleben, wie sich das gestörte Verhältnis einer Mutter-Kind-Beziehung entwickelt und zur Metamorphose eines Kindes in einen bestialischen Amokläufer geführt hat. Viele Dramen funktionieren ähnlich, indem sie uns zuerst die Erfüllung von erwarteten Ereignissen zeigen und erst später die Entwicklung zu diesen Ereignissen zeigen.

Aber auch dann benötigt die Dramaturgie einen Gegenpol, der aus Überraschungsmomenten besteht. Eine Story, in der sich sämtliche Vermutungen bestätigen, wird sehr schnell langweilig. Spannende Storys benötigen deshalb auch gelungene und vor allem glaubwürdige Überraschungen. Doch dazu im nächsten Beitrag mehr.

Punxsutawney Phil: „Ein Murmeltier als PR-Magnet“

 

Diese Woche fand in den USA, so wie jedes Jahr am 02. Februar, der „Murmeltiertag“ statt. Mit rund 6.000 Einwohnern ist der Ort mit dem beinahe unaussprechlichen Namen Punxsutawney in Pennsylvania heute weltweit bekannt. Nicht unbedingt wegen dem Brauch, alljährlich ein Murmeltier als Wetterpropheten zu verehren, sondern vor allem wegen einem Hollywoodfilm.

Wir finden heute kaum einen Beitrag über das Murmeltier Phil, ohne das gleichzeitig auch der Film Groundhog Day (DE: Und täglich grüßt das Murmeltier) in Zusammenhang mit der Popularität des alljährlich stattfindenden Ereignisses gebracht wird.

Es gibt zwar viele Hollywoodfilme, die ein reales Ereignis in ihre fiktive Dramaturgie einbauen, aber nur selten konnte dadurch ein Ereignis zu internationaler Bekanntheit führen und zu einer weltweit populären Marke für eine Kleinstadt werden. Der Grund für die Popularität dieser Kleinstadt liegt in der Popularität des Filmes und deshalb in der Dramaturgie dieses Filmes.

Ein Gefangener der Zeit

Bill Murray, der Protagonist, verkörpert die Figur Phil, einen unausstehlichen und selbstverliebten Wettermoderator, der damit konfrontiert wird, ständig denselben Tag erleben zu müssen. Die Dramaturgie des Filmes verarbeitet also folgende Frage: „Was wäre, wenn wir täglich zur selben Zeit im selben Tag gefangen wären?“ Wie würden wir damit umgehen? Würden wir die Situation für unsere Zwecke ausnutzen? Würden wir durchdrehen? Würden wir verzweifeln und uns schließlich den Tod wünschen? Vermutlich könnten alle Überlegungen zutreffen und nicht zufällig finden wir diese Gedanken auch in den Handlungen des Protagonisten wieder. Der Wettermoderator Phil entwickelt sich durch seine „Gefangenschaft“ von einem rücksichtslosen Egoisten zu einer werteschätzenden und hilfsbereiten Figur. Dass diese Entwicklung mit viel Witz verbunden ist, wird freilich durch die Situation selbst bedingt.

Die dramaturgische Entwicklung einer Figur durch Wiederholung und Entscheidung

Phil mag keine Menschen. Zu Rita sagt er, dass Menschen Idioten sind und diese Einstellung untermauert er mit seiner Haltung gegenüber den Menschen von Punxsutawney. Das, was wir von dieser Figur während der ersten 15 Minuten erfahren, genügt, um alle folgenden Handlungen des Protagonisten als Gefangener des 2. Februars zu glauben. Phil kann durch die ständigen Wiederholungen des Tages auch seine getroffenen Entscheidungen immer wieder revidieren und sich durch die gewonnenen Erkenntnisse weiterentwickeln. Darin liegt die dramaturgische Zugkraft des Filmes.

Der erste wiederholte Tag stößt noch auf die Verwirrung des Protagonisten. Phil glaubt lediglich an ein ziemlich intensives Déjà-vu. Am nächsten Tag jedoch erkennt Phil, dass er ein ziemlich ernsthaftes Problem hat. Ein Schneesturm verhindert seine Abreise und Ärzte können ihm auch nicht helfen. Nicht einmal ein Psychologe begreift Phils Dilemma. Also was tun? Der Protagonist beginnt mit seiner Situation zu experimentieren. Er erkennt, dass alle seine Handlungen keine Konsequenzen am folgenden Tag bedeuten und deshalb nützt er diese Erkenntnis, ganz seinem Charakter entsprechend, auch aus. Er kann mit einem Auto durch die Gegend rasen, Geld stehlen, im Fernsehen über den Murmeltiertag lästern und sogar einen lästigen Versicherungsmakler schlagen. Das alles kann die Figur tun, ohne irgendwelche Konsequenzen zu befürchten. Worin besteht nun das Ziel einer Figur in einer solchen Situation? Das Erleben des 3. Februars? Das ganz bestimmt, aber relativ früh erfahren wir auch, dass Phil sich in Rita verliebt. Rita ist das Gegenteil von Phil. Sie ist rücksichtsvoll und schätzt ihre Mitmenschen. Sie verkörpert im Grunde genommen alle Eigenschaften, die Phil so sehr verachtet. Phil beginnt deshalb die Macht der Wiederholung auszunützen, um Ritas Herz zu erobern.

Er erkennt, wie einfach er Frauen mit dem Nutzen seines Dilemmas verführen kann und er versucht seine Verführungskünste schließlich auch an Rita, indem er sie jeden Tag etwas besser kennenlernt, um sie mit seinem wachsenden Wissen zu beeindrucken. Aber sein Plan scheitert. Nach mehreren hartnäckigen Versuchen muss Phil schließlich erkennen, dass er Ritas Herz nicht an einem einzigen Tag erobern kann. Als Resultat folgt Verzweiflung. Phil ist einsam und er bleibt auch ein einsamer Gefangener in seiner Zeit. Schließlich verliert er seinen Lebensmut und er versucht sich einige Male das Leben zu nehmen. Trotzdem wacht er jeden Morgen wieder am 02. Februar im Bett seiner Pension auf. Die Situation des Protagonisten gipfelt in Hoffnungslosigkeit.

Vertrauen als Schlüssel zur Gefängnistür

Welche Möglichkeiten bleiben also, wenn alle Tricks scheitern und nicht einmal der Freitod möglich ist, um sich der Gefangenschaft eines sich ständig wiederholenden Tages zu entziehen? Phil erkennt, dass er die Menschen von Punxsutawney und Rita mittlerweile so gut kennt, dass er damit auch die Möglichkeit besitzt, Rita seine hoffnungslose Situation zu beweisen. Rita glaubt Phil schließlich und sie bleibt die ganze Nacht bei ihm. Trotzdem wacht Phil auch am nächsten Tag wieder am 2. Februar auf. Diesmal jedoch mit der Erkenntnis, dass Rita ihm vertraut hat. Durch ihr Vertrauen beginnt der Protagonist seine Haltung zu verändern. Weshalb die Zeit nicht für die schönen Dinge des Lebens nützen? Er lernt Klavier spielen, Eisskulpturen schnitzen und er beginnt ein Leben als hilfsbereiter Bürger der Kleinstadt. Phil hat sich mit seiner Gefangenschaft abgefunden und versucht nun sein Leben dementsprechend positiv zu erfülle. Erst als Phil sein Leben ändert und sich Rita deshalb in ihn verliebt, kann der Protagonist aus seinem Gefängnis ausbrechen.

Dramaturgie als PR für eine Kleinstadt

Die Idee, dass eine Figur ständig am selben Tag und in derselben Ortschaft erwacht, ständig auf dieselben Menschen trifft und alle ihre Handlungen daran gebunden sind, machten es natürlich auch notwendig, Bilder von Punxsutawney mit dem Murmeltiertag ständig zu wiederholen. (Auch wenn der Film nicht in Punxsutawney gedreht wurde.) Phil das Murmeltier wurde durch Phil dem Wettermoderator zu einem weltweiten Hit. Wiederholung ist auch ein sehr wirksames Mittel, um erfolgswirksame Öffentlichkeitsarbeit leisten zu können. In der Dramaturgie eines Filmes kann Wiederholung nicht nur für Witz in einer Handlung sorgen und damit die Entwicklung einer Figur wie Phil vorantreiben. Filmdramaturgische Wiederholungen können auch unerwartete Nebenwirkungen erzeugen und diese zeigen sich beispielhaft in der weltweiten Popularität einer Kleinstadt und ihres Brauchtums, ein Murmeltier als Wetterpropheten zu verehren.

Dramaturgische Weihnachtshelden: Engel ohne Flügel

 

Einsicht gehört neben den Elementen der Erinnerung, Identifikation und Erkenntnis zu den wichtigsten Eigenschaften in der Dramaturgie von Weihnachtsfilmen. (Eigentlich in allen Filmen, in denen wir deutlich die Zeichen aristotelischer Dramaturgie erkennen, aber anhand von Weihnachtsfilmen lassen sich diese Eigenschaften ganz besonders gut beschreiben.) Genauso wie die Erkenntnis Grundvoraussetzung dafür ist, eine dramatische Figur bekehren zu können, so ist die Erinnerung eine wichtige Voraussetzung, damit die Figur Einsicht über ihr Verhalten und ihre Haltung erlangt.

Alle Jahre wieder…

… wird auf irgendeinem Fernsehkanal der Spielfilm It´s a Wonderful Life (DE: Ist das Leben nicht schön?) ausgestrahlt. Und zwar ziemlich genau um Heilig Abend, dann aber fast immer spät nachts. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die späte Sendezeit kein Zufall ist. Frank Capras Film schenkt Hoffnung und lässt uns über unsere persönliche Wertetabelle in unserem Leben nachdenken. Dramaturgisch funktioniert das besonders gut zu später Stunde, noch viel besser, wenn wir alleine sind. Die Story ist simpel und einfach zu analysieren, aber die Botschaft ist bedeutsam. George Bailey ist ein erfolgshungriger junger Mann, der große Pläne für sein Leben schmiedet. Aber er ist auch ein sehr großzügiger und hilfsbereiter Mensch, der seine eigenen Interessen ständig hinter die Bedürfnisse anderer reiht. Deshalb bleibt er in dem Nest hängen, in dem er aufwuchs, übernimmt die Bankgeschäfte des Vaters und setzt sich somit der Konfrontation mit dessen größten Widersacher aus. Aber George ist ein Kämpfer, der nicht so leicht aufgibt. Er verliebt sich, heiratet und seine Frau schenkt ihm wundervolle Kinder. Aber er verzichtet auf seine großen Pläne und die Chance einer internationalen Karriere. Er verzichtet darauf die Welt zu sehen, so wie er es immer geplant hatte, um anderen Menschen zu helfen. Und dann plötzlich wird er vom Antagonisten finanziell ruiniert. Georges kleinbürgerliche Welt bricht zusammen, er steht vor dem Abgrund und als letzten Ausweg sieht er nur noch seinen Tod.

Engel ohne Flügel

Der Engel Clarence hält George vom Brückensprung ab und zeigt dem Protagonisten in weiterer Folge, wie die Welt ohne ihn aussehen würde. Der Engel will sich damit seine Flügel verdienen und George ist bereits ein Engel ohne Flügel, ohne dass er sich dessen bewusst ist.

Die Dramaturgie des Filmes baut auf das Erinnerungsvermögen der Hauptfigur. George muss sich an die Wichtigkeit seiner Existenz für seine Umwelt erinnern. Zuerst muss er erkennen, wie eine Welt ohne ihn aussehen würde, damit er sich an sein großes Glück erinnert, von dem er täglich umgeben ist. Er erinnert sich, dass sein kleiner Bruder nicht mehr leben würde, wenn er ihn nicht als Kind gerettet hätte. Er erinnert sich, dass er Freunde hat, deren Persönlichkeit eine völlig andere wäre, wenn er nicht gelebt hätte. Der Engel führt George in eine Welt, in der er für seine Frau nur ein verrückter Vagabund ist. Das ist der dramaturgische Höhepunkt, die Einsicht und Erkenntnis, dass sein größter Schatz seine Familie ist, die es ohne ihn nicht geben würde. Der Engel erinnert George daran, dass kein Reichtum ein größeres Glück für ihn sein kann, als seine Familie und seine Freunde, für die er immer wieder seine Versuche aufgegeben hat, in die Welt hinauszuziehen um erfolgreich zu sein.

Das Glück liegt oft so nah

Erst durch die Erinnerungen triumphiert die Erkenntnis. Der finanzielle Ruin wird zur Nebensache, denn die Hauptsache, seine Familie, wird auch in den schlimmsten Situationen zu ihm stehen. Die Auflösung des Filmes besteht in der Hilfe durch Georges Freunde. Menschen, denen der Protagonist immer wieder geholfen hat und die ihm jetzt aus seinen finanziellen Schwierigkeiten helfen wollen. „Nichts was wir in unserem Leben tun ist umsonst“, auch so könnten wir die Botschaft des Filmes interpretieren. Aber für mich gibt es eine treffendere Prämisse, die auch dramaturgisch sehr gut verarbeitet wurde: „Unser Glück liegt oft so nah, man muss manchmal nur sehr gründlich nachdenken, man muss sich erinnern, um es auch zu erkennen.“

Ich bin mir sicher, dass diese Botschaft ein maßgeblicher Grund für den großen Erfolg dieses Filmes ist. Hoffnung schöpfen zu können ist für uns alle ein essentielles Bedürfnis, aber gerade Menschen, die sich einsam fühlen, können sehr gut an der Figur des George Bailey Hoffnung schöpfen.

In diesem Sinne wünsche ich euch ein glückliches Weihnachtsfest. Im nächsten Jahr starte ich mit einer Beitragsserie in der Kategorie „Wirtschaftsdramaturgie“ und ich würde mich wieder sehr darüber freuen, euch als Leser begrüßen zu dürfen.

Dramaturgische Weihnachtshelden: Erinnerungen an unsere eigene Kindheit

 

Weihnachtsfilme, die von Kindheitserinnerungen handeln, funktionieren in aller Regel sehr gut. Und warum auch nicht? Erinnern wir uns nicht auch alle sehr gerne an unser schönstes Weihnachtsfest? Erinnerung und Identifikation sind die geeigneten Zutaten, um die Handlung eines Filmes interessanter erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist. Der Film A Christmas Story, von Bob Clark, verarbeitet solche Kindheitserinnerungen, die unseren eigenen gar nicht so fremd sind.

Über das schönste Weihnachtsgeschenk

Erinnert ihr euch noch an euer schönstes Weihnachtsgeschenk, das ihr als Kinder bekommen habt? Ich zum Beispiel erinnere mich heute noch sehr gerne an mein schönstes Weihnachtsgeschenk, eine elektrische Eisenbahnanlage, die ich als Kind bekommen habe. Ralphie Parker, der Protagonist in A Christmas Story, wünscht sich nichts sehnlicher als ein „Red Rider Luftdruckgewehr“ zu Weihnachten. Das dramaturgische Ziel des kleinen Protagonisten steuert bereits während der ersten Filmminuten auf diesen Wunsch zu. Ralphie ist zwar ein Kind, aber er weiß, dass er seine Mutter überzeugen muss, um das Gewehr vom Weihnachtsmann zu erhalten. Und darin besteht das Problem, der Konflikt, den die Figur überwinden muss.

„Du schießt dir ein Auge aus“…

hört Ralphie nicht nur seine Mutter sagen, als er ihr von seinem Weihnachtswunsch das erste Mal erzählt. Als Kind stößt er mit diesem Wunsch in der Erwachsenenwelt auf heftigen Widerstand. Bemerkenswert sind nicht die Mittel, mit denen das Kind versucht das dramaturgische Ziel zu erreichen, sondern die Ehrlichkeit, mit der in diesem Film über die Ängste und Probleme eines Kindes erzählt wird. A Christmas Story spielt während der 40er Jahre, in einer Zeit, in der es noch kein Fernsehen gab und Radio das Leitmedium war. Und eine Radiosendung wird auch zur ersten großen Enttäuschung für den Protagonisten, der ständig gegen die Erwachsenenwelt ankämpfen muss, um seinem Weihnachtswunsch näher zu kommen. Da wäre einmal der ständig nörgelnde Vater, der gegen einen desolaten Heizkessel ankämpft und bei jeder Gelegenheit leidenschaftlich gerne flucht, selbst jedoch keine Schimpfworte seiner Kinder akzeptiert. Er ist die Respektperson im Haus, die jedoch beinahe nichts ohne Zustimmung der Mutter unternimmt. Und die Mutter wiederum managt den ganzen Haushalt und sie ist es auch, die zuerst überzeugt werden muss, wenn es um die Weihnachtswünsche geht. Ralphie konzentriert deshalb all seine Überzeugungsarbeit zuerst auf die Mutter und in weiterer Folge auf die restliche Erwachsenenwelt, um seinem Ziel näher zu kommen. Er denkt gar nicht daran, seinem strengen Vater von seinem Wunsch zu erzählen. Der Film ist auch deshalb sehr ehrlich, weil er uns sehr viel an unsere eigene Denkweise als Kinder erinnert. Haben nicht auch wir gewusst, dass es streng verboten war zu petzen, wenn die Erwachsenen genau das von uns verlangten? Haben nicht auch wir uns nach heftigem Streit mit unseren Eltern eine schwere Krankheit gewünscht, damit die Eltern sich schuldig fühlen und ihre Bestrafungen zutiefst bereuen? Die Dramaturgie des Filmes arbeitet sehr intensiv mit den Tagträumen des Kindes, die oft auch tröstende Funktion haben.

Ich bin mir sicher, dass sich die meisten von uns an solche Träumereien erinnern können. Und auch der Alltag eines Kindes kann ganz schön hart sein, zumindest erfordert er konditionelle Fitness, wenn der Raufbold der Schule ständig Jagd auf einen macht. Ralphie wird also mit allerlei Problemen konfrontiert und all seine Versuche, die Erwachsenen für seinen größten Wunsch zu gewinnen, scheitern. Die Lehrerin, ja sogar der Weihnachtsmann selber raten ihm vom Luftdruckgewehr ab. Sie alle sagen ihm dasselbe: „Du wirst dir nur ein Auge ausschießen.“

Die Erwachsenen verstehen nichts von den Wünschen, noch viel weniger von den Sorgen eines Kindes. Darin besteht das große Potential, der Konfliktstoff der Dramaturgie. Mit der Sorgfalt eines kritischen Beobachters verarbeitet Bob Clark die verschiedenen Sichtweisen von Erwachsenen und Kindern und lässt das erwachsen gewordene Kind mit Schmunzeln über die vergangenen Erlebnisse erzählen. Es sind keine großartigen, weltverändernden Konflikte, aber sie schöpfen auf der Erzählebene aus tiefster Ehrlichkeit und deshalb konnte dieser Film so erfolgreich werden. Die Dramaturgie einer so schönen Kindheitserinnerung wie in A Christmas Story benötigt deshalb auch eine ehrliche Auflösung.

Und Vater ist doch der Weihnachtsmann

All die Anstrengungen von Ralphie scheinen schlussendlich vergebens zu sein. Das Fest wird zur Enttäuschung und das Geschenk der Tante wird zur Demütigung für den Protagonisten. Und dann plötzlich, als die ganze Bescherung endlich vorbei zu sein scheint, entpuppt sich plötzlich der Vater als guter Weihnachtsgeist. Der Vater ermuntert seinen Sohn in der Ecke hinter dem Weihnachtsbaum nachzusehen, in der sich noch ein letztes Paket befindet. Das Kind schnappt sich das längliche Paket, reißt hastig das glitzernde Geschenkpapier ab und dann hält Ralphie es in seinen Händen: Das „Red Rider Luftdruckgewehr“, das er sich so sehr gewünscht hat. Nie hätte es der kleine Protagonist gewagt, seinem Vater von dem Wunsch zu erzählen und ausgerechnet der Vater beschert ihm nun sein schönstes Weihnachtsfest. Denn so klug das Kind auch sein mag, es hätte niemals daran gedacht, dass sich die Eltern in einer intakten Ehe über sehr viele Dinge unterhalten. Und auch wenn sich die Vaterfigur nur selten gegen das letzte Wort der Mutterfigur durchsetzt, so kommt es doch manchmal vor, dass er nicht die Zustimmung seiner Frau sucht. Die Erinnerung an die eigene Kindheit und das eigene Luftdruckgewehr hat die Vaterfigur in die Träume des Kindes einfühlen lassen. Gibt es eine schönere und zugleich glaubwürdigere Auflösung für einen solchen Weihnachtsfilm? Das war der gelungene und überraschende Höhepunkt. Natürlich darf großes Chaos in einer amerikanischen Weihnachtskomödie zum Schluss nicht fehlen. Dramaturgisch notwendig war alles was nach dem Höhepunkt folgte aber nicht mehr. Denn so, wie der erwachsene Protagonist ganz zum Schluss erzählt, hielt er das wohl schönste Weihnachtsgeschenk, das er jemals erhalten hat und jemals erhalten wird, bereits fest in seinen Armen.

Neben den „Bekehrungs- und Erinnerungsmodellen“ in der Dramaturgie von erfolgreichen Weihnachtsfilmen spielen Erkennung und Identifikation eine wichtige Rolle. Als wichtiges Element fehlt jetzt noch die Einsicht in der Erfolgsdramaturgie von Weihnachtsgeschichten. Über das „Einsichtsmodell“ erzähle ich im letzten Beitrag dieser Weihnachtsserie.

Dramaturgische Weihnachtshelden: Das „Bekehrungsmodell“ nach Charles Dickens

 

A Christmas Carol, von Charles Dickens, ist wahrscheinlich die berühmteste Weihnachtsgeschichte überhaupt. Erzählt wird die Geschichte des hartherzigen Geschäftsmannes Ebenezer Scrooge, der erst durch die Erscheinung von drei Weihnachtsgeistern zu einem großzügigen und anerkannten Mann seiner Stadt wird. Keine besonders aufregende Story, um auch dramaturgisch mit einem Stück Weltliteratur erfolgreich arbeiten zu können, möchte man annehmen, aber Dickens Weihnachtsgeschichte wird auch zukünftig populär in unseren Medien verankert bleiben. Egal ob die Figuren aus dem England Mitte des 19. Jahrhunderts stammen, zeitgenössische Workaholics, animierte Hollywoodstars oder einfach nur Muppets sind. Die Story ist und bleibt mit dem dramaturgischen „Bekehrungsmodell“ ein Kassenschlager.

Der Trick mit der Bekehrung

Ehrlich gesagt beruht der Erfolg dieser Story nicht auf einem Trick, sondern auf einem uralten Erzählkonzept, das sehr viel älter als unsere Schrift ist. Nachlesbar ist es aber bereits auch in der Poetik von Aristoteles: „So soll auch der Dichter, wenn er jähzornige, leichtsinnige und andere mit derartigen Charakterfehlern behaftete Menschen nachahmt, sie als die, die sie sind, und zugleich als rechtschaffen darstellen.“(Aristoteles, Die Poetik, S.49) Es gibt also eigentlich keine grundsätzlich schlechten Menschen, sondern nur Fehler, die diesen Menschen widerfahren sind. Wir erwarten deshalb immer eine Korrektur dieses Fehlers, egal ob sich ein alter Geizhals zu einem großzügigen Großstadtbürger entwickelt, oder ob sich die selbstverliebte Geschäftsfrau in eine liebende Mutter verwandelt. Diese „Bekehrungen“ wollen wir sehen und deshalb spielt es überhaupt keine Rolle, in welche Hülle derselbe Inhalt immer wieder verpackt wird.

Das Modell und die Inhalte von A Christmas Carol

Der Kern in der Erfolgsdramaturgie von A Christmas Carol findet sich in der Bekehrung des Protagonisten zu einem großzügigen und gütigen Menschen. Alles was die Story benötigt sind drei Weihnachtsgeister, die Scrooge in nur einer Nacht zu einem besseren Menschen bekehren. Der erste Geist führt den Protagonisten in dessen Vergangenheit, um ihm zu zeigen, dass er nicht immer ein hartherziger Geschäftsmann war. Scrooge sieht, wie er das Weihnachtsfest einst liebte und wie die Gier ihn allmählich blind für all die schönen Dinge des Lebens machte. So auch für seine erste Liebe, die er wegen seiner wachsenden Profitsucht aufgab. Aus der Perspektive eines Beobachters lösen diese Erkenntnisse zwar erste Überlegungen aus, aber die notwendige Steigerung folgt erst mit dem Erscheinen des zweiten Geistes. Dieser zeigt der Figur, wie sehr sie von ihrem Umfeld verachtet und verspottet wird. Ein echter Angriff auf die Ehre und ein heftiges Erschüttern im Selbstbildnis des Protagonisten. Nicht nur das, die Figur wird zudem mit den Konsequenzen ihrer gnadenlosen Handlungen konfrontiert. Die Haltung beginnt sich mit der Erkenntnis zu verändern und die Story bleibt dadurch auch dramaturgisch plausibel. Aber in einer klassischen Drei-Akt-Struktur benötigt die Story auch einen dritten Geist, der sämtliche Bekehrungshandlungen abschließt. Der Geist der Zukunft zeigt dem Protagonisten Tod und Leere als letzte Überbleibsel der eigenen Existenz. Niemand wird sich an die Figur erinnern, keiner wird ihr eine Träne nachtraueren. Das sind die schlimmste Erkenntnisse für Scrooge und der Höhepunkt in der Dramaturgie. In größter Not und Verzweiflung fleht er um Gnade und um eine letzte Chance, ein besserer Mensch sein zu dürfen. Und Scrooge erhält diese Chance. Die Figur hat die Warnungen der Geister verstanden und vor allem die Erkenntnis gewonnen, das eigene Leben nicht länger als hartherziger Geizhals verschwenden zu wollen.

Wie ich eingangs erwähnte, benötigt A Christmas Carol keine aufregenden oder komplizierten Handlungsabläufe. Die Dramaturgie ist einfach und benötigt lediglich den Effekt der Bekehrung, der solange es Menschen und Medien gibt, wahrscheinlich immer funktionieren wird. Auch wenn Figuren wie Scrooge beliebig ausgetauscht werden können, unser Verlangen nach einer Bekehrung ist stärker als eine einfach gestrickte Drei-Akt-Dramaturgie mit einer längst bekannten Story.

Erinnerungen an die eigene Kindheit können sehr starke Argumente für eine dramaturgisch glaubwürdige Bekehrungsszene sein. Erinnerungen und Erkenntnis sind die zentralen Elemente einer Bekehrungsdramaturgie, so wie sie es in der Dramaturgie vieler anderer Filme auch sind. Erinnerungen werden aber auch oft mit Identifikation gepaart, um die Aufmerksamkeit eines großen Publikums für eine einfache Weihnachtsgeschichte zu erregen.

Wer kann sich nicht an seine eigene Kindheit erinnern und zugleich mit ähnlichen Ereignissen in der Dramaturgie von Weihnachtsfilmen identifizieren. Dazu aber in meinem nächsten Beitrag etwas mehr.

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Aristoteles; Fuhrmann, Manfred (2006): Poetik. Griechisch – deutsch. Stuttgart: Reclam.

Dramaturgische Weihnachtshelden: Der Weihnachtsmann als Protagonist

 

Er gehört wahrscheinlich zu den prominentesten Protagonisten in der Mediengeschichte: Der Weihnachtsmann. Aber wer ist diese Figur; eine Schöpfung der Mythen? Eine Erfindung von Coca Cola? Oder gibt es vielleicht doch eine historische Persönlichkeit, die als Vorlage für die Figur des Weihnachtsmannes bis heute nichts an ihrer dramaturgischen Zugkraft verloren hat?

Der Weihnachtsmann als Metropolit

Wir wissen heute leider sehr wenig über den heiligen Nikolaus von Myra. Fest steht, dass es sich um eine sehr beeindruckende Persönlichkeit gehandelt haben muss, die sich durch zahlreiche Legenden und Erzählungen bis weit ins 16. Jahrhundert zu einer mythischen Figur, einem Wundertäter, entwickeln konnte. Verbreitet auf der ganzen Welt ist vor allem sein Auftreten als Wohltäter und Beschützer der Armen und Hilfsbedürftigen. Dadurch ist es auch kaum verwunderlich, dass auf den heiligen Nikolaus bis heute so viele Schutzpatronate zurückzuführen sind. So ist er nicht nur Schutzpatron der Bettler und Armen, sondern auch der Prostituierten, Schifffahrer, Notare und Rechtsanwälte, ja sogar Verbrecher und Gefangenen, um nur einige wenige zu nennen. Seit dem 15. Jahrhundert ist Nikolaus auch als Gabenbringer für die Kinder bekannt. In dieser Funktion ist die Figur besonders in dramaturgischer Hinsicht bis in die Gegenwart sehr bedeutsam geblieben.

Die Dramen um die Figur des heiligen Nikolaus

Verarbeitet und verbreitet wurden die Legenden um den heiligen Nikolaus vor allem durch die geistlichen Spiele, die Mirakelspiele, des Mittelalters. Auch wenn ich in diesem Beitrag nicht näher darauf eingehen kann, an dieser Stelle möchte ich trotzdem das großartige Stück von Jean Bodel, Das Spiel vom Heiligen Nikolaus, empfehlen. (Leider sehr oft vergriffen) In diesem um ca. 1200 entstandenen Mirakelspiel finden wir alle dramaturgischen Elemente, religiöse und weltliche zugleich, die wir bei genauer Untersuchung auch heute noch in sehr vielen Filmen rund um den Weihnachtsmann finden könnten.

Wie der Weihnachtsmann entstand…

…ist deshalb völlig egal. Ich überlasse das der Forschung. (Oder Wikipedia) Dramaturgisch wichtig ist, dass die Legende um den heiligen Nikolaus wegbereitend für eine Figur war, die heute so wandlungs- und vielseitig ist, dass sie bis heute auf der ganzen Welt nichts an ihrer Prominenz eingebüßt hat. Die Mitra und das Gewand eines Bischofs wurden zwar ersetzt durch eine rote Zipfelmütze und einen roten Mantel, aber der Rest ist an der Figur haften geblieben. Der Weihnachtsmann ist immer noch ein Wundertäter, ein Gabenbringer, der die Menschen beschenkt, weil er sie liebt. Geblieben ist jedoch auch die Legende, dass er Gerechtigkeit walten lässt und die Menschen deshalb auch bestraft. Deshalb kann die Figur auch dramaturgisch in den verschiedensten Funktionen erfolgreich auftreten.

Der Weihnachtsmann in seiner dramaturgischen Funktion

Wir kennen sie alle, die Weihnachtsmannfiguren in ihren Sinn- und Lebenskrisen. Die Geschichten um die Entstehung des Weihnachtsmannes und die kitschig-süßen Weihnachtsgeschichten, mit denen uns Hollywood jährlich neu beliefert. Dramaturgisch funktionieren sie immer, egal wie platt die Geschichten sind. Wichtig ist nur die Figur und ihre Fähigkeit Wunder zu vollbringen. Oder eben ihre Unfähigkeit, Wunder zu vollbringen. Freilich taucht die Figur zwar immer wieder als Gabenbringer für die Kinder auf, aber es ist trotzdem ein Wunder, in einer Nacht alle Kinder der Welt zu beschenken. (Auch wenn die Figur meistens fliegende Renntiere besitzt.) Und der Traum, dass es tatsächlich einen solchen Wundertäter geben könnte, wird natürlich auch hauptsächlich durch Kinder belebt. Aber die Faszination für Weihnachtsgeschichten mit der Figur eines Weihnachtsmannes hält oft bis ins Erwachsenenleben an.

Auch wenn der Weihnachtsmann in Wirklichkeit ein versoffener Dieb ist, so wie Billy Bob Thornton in Bad Santa, so entwickelt sich auch dieser falsche Weihnachtsmann zu einer Figur, die eine Besserung erfährt und schlussendlich tatsächlich zu einem Gabenbringer wird.

Gerade in all den Filmen mit falschen Weihnachtsmännern, also den Betrügern, die als echte Weihnachtsmänner auftreten, kann sich die Figur dramaturgisch immer zu einem positiven Charakter entwickeln. Die Figur wird zu einem Wohltäter oder einem Beschützer und hat deshalb immer ein sehr breites Potential. Hollywood benötigt hierzu nur den Rückgriff auf die vielen Legenden und Mirakelspiele um den heiligen Nikolaus.

Das funktioniert natürlich auch umgekehrt, wenn der Weihnachtsmann als bestrafende Figur auftritt. Hierzu möchte ich den finnischen Film Rare Exports erwähnen. Die Dramaturgie dieses Filmes spielt mit den Gedanken, dass der Weihnachtsmann die Kinder nicht beschenkt, sondern bestraft. Als Horrorfilm konzipiert entwickelt sich die Story schlussendlich zu einem Film, in dem das Kind über die Erwachsenenwelt triumphiert und den strafenden Weihnachtsmann besiegt. Egal ob den Filmkritikern dieser Film nun gefällt oder nicht, die dramaturgische Auflösung beinhaltet eine wichtige Prämisse, die nach wie vor Allgemeingültigkeit besitzt: Die Figur Weihnachtsmann ist ein weltweit verbreiteter Exportartikel geblieben.

Literaturtipps:

Bodel, Jean: Das Spiel vom heiligen Nikolaus / übers. u. eingel. von Klaus-Henning Schröder. München: Fink, 1975. (= Klassische Texte des romanischen Mittelalters; 14)

Hollywood als Lebensmodell: Warum Träume keine Schäume sind

 

In dieser Artikelserie habe ich öfters vom „Zerstreuungskino Hollywoods“ gesprochen, also einem Kino, das sich seit Bestehen konsequent an die aristotelische Dramaturgie orientiert, um seinem Publikum größtmögliches Entertainment zu bieten. Es gibt einige Medienwissenschaftler, die das Hollywoodkino deshalb missbilligen. Der Film, als zutiefst geisteswissenschaftliche Angelegenheit, als reine Unterhaltungsindustrie zu benutzen sei Missbrauch, habe ich in diesem Zusammenhang schon gehört. Ich persönlich kann nichts Verwerfliches an Unterhaltung finden. Joseph Garncarz ist Filmhistoriker und hat mit Maßlose Unterhaltung ein wunderbares Buch über das frühe Kino geschrieben. Darin fand ich eine mehr als treffende Beschreibung zu Sinn und Zweck von Unterhaltung:

„Als Unterhaltung gilt eine menschliche Aktivität, die in erster Linie darauf ausgerichtet ist, Vergnügen zu bereiten. Unterhaltung ist dabei nicht zweckfrei, sondern dient der Entspannung, dem Sammeln neuer Energien und der Entlastung von gesellschaftlichen Zwängen.“

In seiner Untersuchung des frühen Kinos konnte Garncarz beweisen, dass Unterhaltung seit jeher elementarer Bestandteil eines Filmes ist und keineswegs die Erfindung Hollywoods. Die Erklärung ist eigentlich relativ einfach. Menschen wollten nach dem harten Arbeitsalltag nicht in das Kino, um schwer verdauliche Kunst zu verinnerlichen, sondern um sich berieseln zu lassen, um sozusagen die Seele baumeln zu lassen und zu träumen.

Die Kunst dramaturgischen Denkens

Wer dramaturgisch denken kann, wird wahrscheinlich sehr schnell ein geübter Architekt von packenden Geschichten. Aber gerade darin liegt die Krux, denn dramaturgisches Denken ist absolut nichts, dass sich wie ein Handwerk von heute auf morgen erlernen lässt. Deshalb vertrete ich die Meinung, dass Unterhaltung und insbesondere Unterhaltungskino absolut keine einfache Sache ist. Erinnern wir uns, dass die Bausteine dieser Dramaturgie uralt sind, und wir selbst, das Publikum, bereits erfahrene Dramaturgen sind. Wir wissen, dass der Held, ein waghalsiges Manöver im ersten Akt überleben wird, weil ja sonst der Film zu Ende wäre. Wir ahnen, dass die Stille in einem Horrorfilm jeden Augenblick durch einen schrecklichen Moment abrupt enden wird. Wir ahnen immer ziemlich schnell, welcher Typ schlussendlich welches Mädchen in einem Liebesfilm erobern wird. Wir beurteilen heute im Hollywoodkino sehr viel schneller, wie sich die Story entwickeln wird und liegen meistens richtig, weil wir die Dramaturgie begriffen haben. Deshalb ist es heute für Dramaturgen so schwierig, ein aufgeklärtes Publikum zu unterhalten. Ein Publikum, das bereits mit allen Konventionen und Konventionsbrüchen konfrontiert wurde, heute nahezu jede ausgeschlachtete Story kennt und sich immer noch nach der Möglichkeit der Unterhaltung, der Entspannung vom realen Alltag sehnt. – Puh, eine verdammt schwierige Angelegenheit!

Warum Hollywood als Lebensmodell überleben wird

Eines hat Hollywood begriffen: Träume sind mehr als Schäume und werden deshalb für immer existentieller Treibstoff für die Bewältigung unserer realen Anforderungen begriffen. Solange es Kriege gibt, wird es immer den Traum nach Frieden geben. Und mit diesen Wunschvorstellungen werden auch die entstehenden Filme weiterhin im Einklang stehen. Wir erleben in der Ukraine derzeit eine sehr brisante Phase und wir können bereits jetzt damit rechnen, dass es sehr bald einen Film über diese Krise geben wird. Ein Film mit Figuren, die wie reale Menschen aussehen, sich wie reale Personen benehmen und auch so handeln. Und trotzdem werden diese Figuren besser sein wie wir selbst. Sie werden auch in den unmöglichsten Situationen besser als wir aussehen und es wird eine klare Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern, zwischen Gut und Böse, zwischen Protagonist und Antagonist geben. Wir werden uns also weiterhin mit einer Dramaturgie konfrontiert sehen, die uns einerseits so glaubwürdig und vertraut erscheint, in Wahrheit jedoch völlig realitätsfremd ist. Deshalb funktioniert die Dramaturgie dieser Filme auch weiterhin; weil sie uns trotz jeglicher Abkehr von der Realität auch von einer anderen Welt, vielleicht sogar von einer besseren Welt träumen lässt.

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Garncarz, Joseph (2010): Maßlose Unterhaltung. Zur Etablierung des Films in Deutschland, 1896 – 1914. Frankfurt am Main [u.a.]: Stroemfeld.

Hollywood als Lebensmodell: Zeitlose Figuren

 

Wie ich im letzten Beitrag erzählt habe, entsprechen gelungene Figuren unseren Vorbildern. Figuren verkörpern Eigenschaften, von denen wir träumen. Das gilt auch für „schlechte“ Figuren, Antagonisten oder ganz einfach Schurken, die den Protagonisten das Leben schwer machen. Wenn ihre Handlungen plausibel sind, glauben wir den Figuren, wir empfinden sie als realistisch. Damit sie aber realistisch wirken, muss die Dramaturgie einer Story die notwendigen Konflikte enthalten. Die Figuren müssen ständig mit Problemen konfrontiert werden, damit sie zu Handlungen gezwungen werden. Robert McKee formuliert das sehr schön in seinem Buch: „Wahrer Charakter kann nur durch die Entscheidung, die die Figur in einem Dilemma trifft, ausgedrückt werden. Wie diese Person unter Druck handelt – das ist diese Person; je größer der Druck, desto wahrhaftiger und tiefer entspricht die Entscheidung dem Charakter.“

Auch wenn dieser Leitsatz in seiner ursprünglichen Form Aristoteles zuzuschreiben ist, habe ich im Medium Film ein seltsames Phänomen festgestellt. Der Film hat bis dato keine einzige menschliche Figur hervorgebracht, die sich nachhaltig über mehrere Jahrzehnte in das kollektive Gedächtnis eines Weltpublikums einprägen konnte. Ich spreche jetzt nicht von Figuren wie Flipper und anderen animalischen Berühmtheiten, weshalb ich nochmals etwas präziser wiederhole: „Es gibt KEINE menschliche Figur, die der FILM hervorgebracht hat.“ Sollte ich mich in diesem Punkt irren, bitte ich euch um Informationen. Ich habe lange über viele bekannte Filmfiguren nachgedacht, die anhand von einfachen Symbolen auch heute noch sofort identifizierbar sein könnten. Die Erkenntnis war immer dieselbe. Alle diese Figuren waren keine Schöpfungen des Films, sondern der Literatur.

Die Literatur als Schöpfer zeitloser Figuren

Es stimmt schon, dass sehr viele Figuren gerade durch das Medium Film ihre Unsterblichkeit erlangt haben, sie stammen aber immer aus der Literatur. James Bond kennen die meisten von uns nur aus den vielen Filmen, die bereits seit Jahrzehnten entstehen. Bond ist aber eine literarische Figur. Auch Sherlock Holmes ist eine Figur die anhand einer Pfeife, eines karierten Mäntelchens und einer Mütze sofort erkennbar wird, aber auch diese Figur ist eine literarische Figur. Der Film hat sich seit jeher aus der Literatur bedient und besonders erfolgreiche Figuren auf die Leinwand gebracht, selbst jedoch noch keine über einen längeren Zeitraum überlebensfähige Figur geschaffen. Dafür konnte der Film einer Figur diese Zeitlosigkeit einverleiben, egal von welchem Darsteller diese Figur verkörpert wurde.

Vampir ist Dracula

Das beste Beispiel für eine zeitlose Figur ist Dracula. Mein ehemaliger Prof., Dr. Rainer M. Köppl, hat das in seinem Buch, Der Vampir sind wir, eindrucksvoll untermauert. Jedes Kind, das heute zwei spitze Zähne sieht, (Symbol), erkennt nicht nur einen Vampir, sondern den Vampir Dracula. Dracula ist eine von Bram Stoker geschaffene Figur und entstammt der Literatur. Unsterblich wurde diese Figur aber erst durch die nachfolgenden Medien, hier speziell durch die vielen Filme. So konnte sich diese Figur bis heute zu einem unsterblichen Begriff für Vampire entwickeln. Mit anderen Worten: Wen wir von Vampiren sprechen, denken wir als erstes immer an die Figur von Dracula. (Hier meine ich wortwörtlich Figur) Ein Typ der sexy aussieht und dabei alle wunderschönen Frauen in seinen magischen Bann zieht, der zwischen dem Diesseits und Jenseits wandelt und sich in Tiere verwandeln kann, um nur ein paar bemerkenswerte Eigenschaften zu nennen. Freilich hat auch die Vampirfigur einige Schwächen, die sie verwundbar macht. Diese Schwächen sind uns allen aber mindestens genauso bekannt wie seine Stärken. Wir alle wissen zum Beispiel, dass Dracula keinen Sonnenbrand verträgt. Meiner Meinung nach gibt es keine andere „schlechte“ Figur, keinen anderen Antagonisten, der den Bekannt- und Beliebtheitsgrad dieser Figur toppen könnte. – Aber es handelt sich trotzdem um eine literarische Figur.

Literarische Figuren profilieren, filmische Figuren konstatieren

Die Literatur, als älteres Medium, kann also durchaus als Schöpfungsmedium betrachtet werden. Aber der Film bedient sich dieser großartigen Schöpfungen und verleiht ihnen erst die Körper. Das ist ein Umstand, der von vielen Literaten und Literaturliebhabern verurteilt wird, wenn diese sich darüber beklagen, dass der Film nicht fähig ist, die Tiefe einer Figur dramaturgisch für die Leinwand zu adaptieren. Das ist ein zu ausführliches Thema, dass ich gerne mit einigen anderen Beiträgen vertiefen werde, aber der Einwand ist nicht ganz unberechtigt. Trotzdem muss man festhalten, dass eine dramaturgische Figur, eine auf einer Leinwand handelnde Figur, anders funktioniert, als eine literarische Figur. Denn Handlungen auf der Leinwand müssen in begrenzter Zeit gezeigt werden und dabei auch noch glaubwürdig bleiben, während literarische Handlungen beschrieben werden und zudem auch noch viel mehr Raum dafür haben.

Die reine Filmfigur

Ich habe bis dato keine menschliche Filmfigur entdeckt, die auch eine Schöpfung des Filmes ist und seit mindestens dreißig Jahren einem weltweiten Publikum in Erinnerung blieb. Ich vermute, daran wird sich auch die nächsten Jahre nichts ändern. Hollywood scheint heute mehr denn je auf altbewährtes zurückzugreifen. Figuren mit langer Tradition, Schöpfungen aus der Literatur, die so bekannt wie James Bond sind und bei denen es nahezu egal ist, mit welchem Darsteller sie besetzt werden, stellen eben ein viel kleineres Produktionsrisiko dar. Und eigentlich spielt das auch keine Rolle, weil der Zweck einer Figur und das, was wir von ihr erwarten ist das Entscheidende: Figuren sollen uns zum Träumen animieren und somit ihre Funktion im Zerstreuungskino Hollywoods erfüllen.

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

McKee, Robert (2000): Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Berlin: Alexander.

Köppl, Rainer M. (2010): Der Vampir sind wir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight. St. Pölten; Salzburg: Residenz.

Hollywood als Lebensmodell: Über Stars und andere falsche Vorbilder

 

Gestern habe ich erzählt, dass die Figur immer ein Held sein muss und der Star ein Schwächling bleiben darf. Trotzdem beobachte ich ständig, dass Rezipienten es lieben, Stars mit den Figuren, die sie verkörpern, zu vergleichen. Unlängst erzählte mir ein guter Freund, dass ihm die Figur Charly aus der Serie Two and a half man so gut gefällt, weil er den Star Charly Sheen mit der Figur identifiziert. Mit anderen Worten: Im gefällt, dass der Star Charly genauso versoffen und umtriebig ist, wie die Figur Charly. => Der Star ist die Figur.

Ich teile in diesem Punkt die Meinung des finnischen Meisterregisseurs Aki Kaurismäki. Dieser sagte in einem Interview zur Dokumentation seines Filmes Le Havre: „John Wayne war nachweislich ein Vollidiot, aber als Westernheld war er einsame Klasse.“

Es spielt überhaupt keine Rolle, wenn der Star nicht die Klasse seiner Figuren besitzt. Er muss nur ein genialer Nachahmer sein. Im Gegenteil halte ich es manchmal sogar für gefährlich, wenn Stars auch außerhalb des Drehortes „Täuscher“ bleiben. Ich möchte das anhand eines Beispiels erklären.

Der lustige „Fatty“

Roscoe „Fatty“ Arbuckle war ein Star zu Hollywoods goldenen Zeiten. Er war der lustige Star, den die Kinder liebten und der weltweit das Publikum zum Lachen brachte. Und außerdem verdienten die Studios Millionen mit seinen Filmen. Er war einer der hervorragenden Komiker seiner Zeit und er war ein Star. Er war fett, trank übermäßig viel und er war eigentlich auch sehr hässlich. Aber er hatte trotzdem stets wunderschöne Frauen um sich versammelt und Zeitzeugen berichteten vermehrt von Partys, auf denen Fatty mit Frauen in Hinterzimmern verschwand, um diese brutal zu vergewaltigen. Das Starlett Virginia Rappe starb nachweislich an einem Blasenriss. Es wurde Anklage erhoben und nach drei Prozessen wurde Fatty von den Geschworenen freigesprochen. Tatsächlich konnte ihm nichts nachgewiesen werden, da die meisten Partygäste, die als Zeugen aussagten, zum Tatzeitpunkt selbst schwer betrunken waren.

Die Geschworenen vertrauten auf das unbescholtene Bild der Figuren, die Fatty stets verkörperte. Paramount wollte trotzdem nichts mehr von ihm wissen. Zu sehr war das Image eines wegen Vergewaltigung Angeklagten Komikers angekratzt, um weiterhin mit diesem Dollars verdienen zu können. Fatty verkraftete sein Karriereende nicht, er soff sich zu Tode.

Wir wissen heute natürlich nicht, was damals tatsächlich geschah. Fest steht, dass Fatty kein Unschuldslamm war. Aber egal ob schuldig oder nicht schuldig. Die Karriere eines Stars war zu Ende.

Warum Stars falsche Vorbilder sind

Die heutigen Stars unterscheiden sich grundsätzlich nicht von den Stars aus dem goldenen Hollywoodzeitalter. (bis in die 60er Jahre) Allerdings sind sie heute um sehr viel reicher und die Studiobosse gieren nach den Stars und ihrem Marktwert. Nicht der qualitative Wert eines Schauspielers zählt, sondern sein Popularitätsgrad. Und dieser ist, wie wir alle sehr wohl wissen, für findige PR-Experten heute sehr gut manipulierbar. Ich behaupte, dass heute nur eine Mordverurteilung die Karriere eines Stars für immer beenden kann. (Und nicht einmal da bin ich mir sicher.)

Charly Sheen war ein Filmstar, er baute Mist und wurde nach einiger Zeit zu einem Serienstar. Er baute wieder ständig Mist und wurde nach antisemitischen Beleidigungen aus Two and a half man rausgeschmissen. Auch heute noch fällt er mir ständig mit Skandalen auf. Aber egal ob Sheen ein Künstler der Selbstinszenierung oder tatsächlich ein Arschloch ist, er hat wieder seine eigene Serie und bleibt im Geschäft.

Ich glaube, dass die Stars von heute nicht nur sehr gierig sind, sondern auch ständig danach trachten, ihr zurechtgelegtes Image aufrecht zu halten. Genauso wie sie nichts mit den Figuren gemein haben, hat auch dieses Image nichts mit der wahren Persönlichkeit eines Stars zu tun. Deshalb sollten wir uns hüten, falschen Vorbildern nachzueifern, die keine Vorbilder sind, sondern lediglich konstruierte Inszenierungen von Persönlichkeiten darstellen.

Figuren als Vorbilder

Die Figuren sind die wahren Vorbilder und das aus ganz einfachem Grund. Sie verkörpern Wesenszüge, von denen wir träumen. Sie zeigen uns Dinge, die wir selbst nicht können. Aber wenn die Figuren glaubwürdig handeln, schenken sie uns Hoffnung, um dieselben faszinierenden Dinge ebenfalls tun zu können. Darin liegt die Kraft von dramaturgischen (handelnden) Figuren. Die Stars sind nur die Hüllen, die Nachahmer, die sehr viel Geld verdienen und die uns nicht weiter zu interessieren brauchen. Egal ob der Star ein edler Mensch oder einfach nur ein Schwachkopf ist, die Figur muss immer erhaben sein. Das gilt für Helden und Schurken gleichermaßen. Und den Figuren schenke ich in meinem nächsten Beitrag dieser Serie meine Aufmerksamkeit.

Verwendete Quellen für diesen Beitrag:

Camonte, Tony S. (1987): 100 Jahre Hollywood. Von der Wüstenfarm zur Traumfabrik. München: Heyne.